„Der verlorene Vater“
Die Geschichte vom verlorenen Sohn kennt jeder. Sie steht schon in der Bibel und ist jederzeit für eine eindrucksvolle Sonntagspredigt gut. Mit ihren psychologischen Deutungen und pädagogischen Schlussfolgerungen, mit allem Drum und Dran ist sie außerordentlich lehrreich für das tägliche Leben. Überdies wurde sie in der Literatur immer wieder als Vorlage benutzt, angefangen beim trutzigen Rebellen, der Vaterhaus und Mutterbrust verlässt und auszieht, die Welt zu verbessern, bis zum verdorbenen Früchtchen am Familienbaum, das schlicht mit der Ladenkasse durchgeht. Die Geschichte vom verlorenen Vater ist so selten auch nicht …
Mit diesen Zeilen beginnt eine Erzählung von Utta Danella, die sie „Der verlorene Vater“ betitelt hat. Utta Danella, die 2015 im hohen Alter von 95 Jahren starb, schrieb Unterhaltungsliteratur, Bücher und Erzählungen, die mitunter auch als Vorlage von Filmen im Stile der Rosamunde Pilcher-Verfilmungen dienten, mit viel Schmerz und Herz also. Mit Herz und Schmerz hat auch die genannte Erzählung zu tun, die Danella vor den Hintergrund des Gleichnisses vom verlorenen Sohn gestellt hat (Lukas 15,1–32), das heute gern das Gleichnis vom barmherzigen Vater genannt wird und in der katholischen Kirche in der Österlichen Bußzeit gelesen wird.
Otmar Wehlen, von dem hier erzählt wird, ist Buchhändler in einer deutschen Kurstadt, verheiratet, Vater dreier Kinder. Eines Tages bricht er zu einer Reise nach Italien auf, die ihn nach Sizilien führen soll – der Staufer Friedrich II. war sein Studienobjekt. Indes, er meldet sich aus Italien nicht mehr. Wochen vergehen, die Familie ist höchst beunruhigt und malt sich Schreckensszenarien aus. Überdies wird festgestellt, dass er wohl gar nicht nach Italien gefahren ist, da er keine Lira, sondern Dollar eingetauscht hat. Er bleibt verschollen, mit den Jahren finden sich seine Frau Traudl und die Kinder damit ab. Sie leitet mit Geschick und Übersicht die Buchhandlung, innerlich hat sie sich von ihrem Mann gelöst, glaubt jedenfalls, dass es so sei. „Irgendwann gewann sie eine ruhige Gelassenheit, kein Zorn mehr, kein Gram, kein Hass – das Gefühl, das sie erfüllte, war schwer zu deuten. Vielleicht konnte man es Mitleid nennen. Sie dachte manchmal, fast heiter: Was machst du denn? Denn sie wusste mit Sicherheit, dass er noch am Leben war.“
Mehr als sieben Jahre vergehen. Traudl Wehlen feiert ihren 50. Geburtstag, die Kinder, Verwandte und Freunde sind gekommen. Da meldet sich ihr Mann aus Frankfurt. Die jüngste Tochter Babsi, jetzt 18, ist am Telefon, erkennt die Stimme aber sofort wieder und ruft ihre Mutter. Ruhig, ja fast sachlich, führt sie das Gespräch mit ihrem Mann, der aufgeregt, wirr erscheint. Sie bittet ihn zu kommen. Er habe kein Auto mehr und auch kein Geld für eine Fahrkarte, hört sie und schlägt ihm vor, sich ein Taxi zu nehmen, sie wird es bezahlen.
Stunden später kommt tatsächlich ein Taxi an. Ihr Mann steigt aus. Sein Anzug ist schäbig, er selbst hinkt, ist blass und hager geworden. „Jetzt bin ich doch gekommen“, sind seine ersten Worte. „Das ist ein schönes Geburtstagsgeschenk für mich“, sagt sie. Weil sie nicht gleich mit ihm unter die Gäste im Garten treten will, gehen sie erst einmal die Straße entlang, Hand in Hand. Er erzählt, dass er in Kanada allein in einer Blockhütte gelebt hatte. Er wollte einmal das Ganze haben. Aber er selbst war nicht ganz, seine andere Hälfte war zuhause geblieben … Aber wieder heimzukommen, umzukehren, ging irgendwann auch nicht mehr: „Ich war feige, ich hatte Angst.“ So ist er immer weiter gelaufen.
Dann führt sie ihn doch in den Garten, wo die Gäste wie zuvor sitzen und die beiden stumm anstarren. „Also so was!“, ruft sie und gibt Anweisungen, ein Abendbrot zu richten.Der Sohn soll aus dem Keller Wein holen … Doch ihre älteste Tochter steht auf und schiebt den Stuhl zurück: „Ohne mich!“ Dieser Mann da, mit dem du da ankommst – also man kommt sich ja wie ein Idiot vor.“ „Nun ja“, sagt Traudl gelassen, „das geht einem manchmal so.“ – Allenthalben Schweigen. Doch plötzlich ertönt ein Lachen: Babsi, die Jüngste, hat sich auf die Stufen zum Haus gesetzt und gibt ihrer Freude Ausdruck, wieder einen Vater zu haben. Sie knufft ihren Bruder an und erinnert ihn daran, Wein zu holen. Ehe einer noch etwas sagen konnte, etwas Gescheites oder etwas Dummes, erfüllte lautes Gedröhn den Garten. Babsi hatte ihr Transistorradio ins Küchenfester gestellt und auf volle Lautstärke gedreht.
(Der verlorene Vater. Aus: Utta Danella, Familiengeschichten (1979)
Die biblischen Geschichten stehen in der Gefahr einer geradezu ikonographischen Verfestigung, weil sie immer gleich erzählt werden. Der barmherzige Vater wird nach allen Seiten hin ausgeleuchtet, aber immer ist er der Barmherzige. Dabei wollte Jesus in seinen Gleichnissen wie auch in seinem Tun oft nur ein Beispiel geben, das in den Alltag der Menschen übersetzt werden soll. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“, sagt er einmal (Lukas 6,36). – Auch mit den Vätern oder Müttern, mit den Töchtern oder mit ganz anderen Menschen.
In der Geschichte von Uta Danella sind es die Mutter und die jüngste Tochter, die zum Fest auffordern – ganz ähnlich wie im Evangelium: Unser Vater war tot, jetzt lebt er wieder!