„Schau nur zur Seite, dein Grab wird dir bereits gegraben“

Maarten ’t Hart  (* 1944) ist ein niederländischer Schriftsteller, dessen Vater Totengräber war. In seinem autobiographisch gefärbten Roman „Der Flieger“ von 2008 erzählt er aus der Sicht eines etwa vierzehnjährigen Jungen vom Handeln und von den Gedanken seines Vaters, der auch Totengräber ist, sich selbst aber immer als Grabmacher bezeichnet („Ich grabe keine Menschen tot!“). Wie gewöhnlich geht er eines grauen Novembertages auf dem Friedhof seiner Arbeit nach. Heute muss er ein Reihengrab der dritten Klasse in der Nähe des Wassergrabens und der Bahngleise neben dem Friedhof ausheben. Da hört er einen Gleisarbeiter, der an die Schienen schlägt. Er geht zu ihm hin und fragt ihn, ob er schon von dem Fensterputzer in Rotterdam gehört habe „Nein“, antwortet der. „Tja“, sagt der Grabmacher, „der war gerade am Fensterputzen, im vierzigsten Stock, als sein Haltegurt reißt. Er stürzt auf die Straße, Menschen kommen angerannt, und eine Frau fragt: „,Was ist denn hier passiert, Herr Fensterputzer?‘ ‚Das weiß ich nicht‘, erwidert der Mann, ,ich liege auch erst seit kurzem hier.‘“ Der Gleisarbeiter lacht, beide machen sich wieder an ihre Arbeit. Nach einer Weile hört der Grabmacher ein kreischendes Geräusch, einen dumpfen Schlag und das Quietschen von Bremsen. Augenblicklich legt er seine Schaufel weg und springt über den Graben zu den Gleisen. Da steht ein Zug, und da liegt der Gleisarbeiter mit dem Gesicht nach unten auf den Schienen. Er ist tot. –

Ich musste den ganzen Tag daran denken, erzählt der Grabmacher abends seiner Familie, dass das Letzte, was der arme Kerl in seinem Leben gehört hat, der Witz von dem Fensterputzer war. Und beigesetzt werden soll er nun just in dem Reihengrab dritter Klasse, das er gerade ausgehoben hatte: „Ist das nicht unglaublich, dass man das Grab für jemanden gräbt, der zehn Meter entfernt pfeifend seiner Arbeit nachgeht? Man könnte diese Geschichte fein säuberlich aufschreiben und hinten an die Bibel anfügen: Mensch, denk daran, du zwitscherst zwar wie ein Spottvogel und glaubst, du seiest wer weiß wer, aber schau nur zur Seite, dein Grab wird dir bereits gegraben.“

Aksel Waldemar Johannessen, Der Totengräber

Maarten ’t Hart erzählt in seinen Romanen gern von leicht skurril scheinenden Menschen aus seiner Heimat Holland, die ihren calvinistischen Glauben auch im Alltag zu leben sich mühen, die sich über ihn Gedanken machen, über ihn sprechen und streiten. Ist das nicht sogar etwas Besonderes? Ob man die an eine Parabel erinnernde Geschichte vom Tod des Gleisarbeiters, dessen Grab schon gegraben wird, als er noch vor sich hin pfeift, an den Schluss der Bibel anhängen sollte, wie es der Grabmacher vorschlägt, ist eine andere Frage. Denn im Grunde ist die Bibel voll von ähnlichen Mahnungen, die Endlichkeit des Lebens zu bedenken: Die Menschen gleichen dem sprossenden Gras, am Morgen grünt es und blüht, am Abend wird es geschnitten und welkt, heißt es etwa in Psalm 90. „Windhauch, Windhauch“ nennt der Weisheitsprediger Kohelet all das, was Menschen in ihrer Eitelkeit zu besitzen meinen oder zu erstreben suchen, aber: Nichts ist beständig. Und Jesus gibt uns in seinem Gleichnis vom reichen Kornbauern das Beispiel für einen Narren, der darüber sinniert, wie er für sich selbst Schätze sammeln kann, aber von Gott noch in derselben Nacht vom Leben abberufen wird.

Auch die Liturgie führt uns das einmal im Jahr, am Aschermittwoch, sinnenhaft vor Augen, was der Grabmacher in Maarten ’t Harts Roman sagt: „Mensch, denk daran, du zwitscherst zwar wie ein Spottvogel und glaubst, du seiest wer weiß wer, aber schau nur zur Seite, dein Grab wird dir bereits gegraben.“ Eben dies will das Begleitwort zum Asche-Ritus, „Bedenke Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst“, zum Ausdruck bringen. Neben diesem Wort klingt die alternative Formel „Kehr um und glaub an das Evangelium“ scheinbar harmlos. Dabei wird uns doch im Evangelium eine Zukunft über Tod, Asche und Grab zugesagt. Um die Bedeutung dieses Wortes im Blick auf das eigene Ende auszudrücken, muss man die Formulierung nur richtig betonen: „Kehr um und glaub an das Evangelium!“ Wie schwer dies ist, zeigen die vielen Gespräche und Diskussionen um den Glauben nicht zuletzt auf dem Friedhof in Maarten ’t Harts Roman. Aber gibt es eine Alternative?

 

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