Weihnachten „Wie früher“

„Advent wie damals“ – Weihnachten wie früher“ – Plätzchen wie bei Oma“: Kaum ein Fest, kaum eine Festzeit ist so rückwärtsgewandt wie die Advents- und Weihnachtszeit. Nostalgisches hat Konjunktur, wird deshalb auch bewusst so eingesetzt – bis hin zur Frakturschrift in den Anzeigen. Bücher geben Tipps, „wie man sich auf ganz einfache Weise die gute alte Zeit in das eigene Zuhause zurückholen kann“ – warum ist das so? Warum verbinden wir gern Weihnachten (und die Adventszeit) mit der Zeit von Anno dazumals?

Warum bestehen manche Menschen darauf, dass es am Heiligabend so läuft, „wie es immer war“ einschließlich Würstchen mit Kartoffelsalat? Woher rührt die Sehnsucht nach den „weißen Weihnachten“, die es in der Kindheit angeblich immer gab? Es sind vor allem psychologische Gründe, die dahinter stecken.

Ein Kommunikations-Schema

Ingeborg Weber-Kellermann, die sich wiederholt und vertieft mit den Bräuchen und Ritualen des Weihnachtsfestes, des Heiligen Abends und auch der Familie beschäftigt hat, hat auf interessante Zusammenhänge des Heiligabend-Rituals hingewiesen: Im innerfamiliären Bereich, der zwei, höchstens drei Generationen umfasst, stehen sich zwei Gruppen gegenüber: Eltern und Kinder oder, um es in einen Kommunikations-Schema auszudrücken: Sender und Empfänger. Die Eltern befinden sich am Heiligabend vor der Bescherung im Weihnachtszimmer – der fertig geschmückte Baum ist ihnen bekannt –, sie wollen die Kinder überraschen, ihnen Freude bereiten und erwarten dafür die Erfüllung bestimmter Forderungen und Verhaltensgebote, zum Beispiel Artig-Sein, Weihnachtslieder-Singen, Gedicht-Aufsagen, Dankbar-Sein, Sich-der-Weihnachtsstimmung-Anpassen; der Vater übernimmt mit dem Anzünden der Kerzen die führende Rolle.

Die Kinder befinden sich außerhalb des Weihnachtsraumes, sie sind nicht in Kenntnis des fertig geschmückten Baumes (zumindest die kleineren), sie erwarten den hellen Baum als Überraschung, wollen Freude erfahren und sind sich der damit verbundenen Gebote bewusst; sie haben sich dafür in langen Wochen präpariert und wollen von den Eltern an diesem Abend geführt werden.“

Das Interessante an dieser Beobachtung ist, dass in dem innerfamiliären Kommunikationsprozess irgendwann einmal die Rollen weitergegeben werden: So wie die Eltern in ihrer Kinderzeit einmal „Empfänger“ waren, so werden aus den Kindern einmal „Sender“ – sofern eigene Kinder vorhanden sind und sich nicht die Eltern nach wie vor als stärkere „Sender“ erweisen. Daraus ergibt sich zweierlei: Die Eltern haben ihrerseits viele Bräuche übernommen, die sie als Kinder in der Heiligabend-Inszenierung erlebt haben. Und auch ihre Kinder werden viele dieser Traditionen weitervererben, weil sie diese jetzt so erleben.

Bewahrung alter Traditionen an besonderen Tagen

Das Kommunikationsschema, das Weber-Kellermann im Heiligabend-Geschehen erkennt, vor allem die spätere Übernahme der Elternrolle durch die Kinder, erschließt noch eine weitere interessanten Beobachtung: Auf diese Weise beinhaltet der Heiligabend in vielen Familien nämlich sehr alte Traditionen, die teilweise durch die familiäre Lebenswelt einerseits bzw. durch den Festinhalt andererseits gar nicht mehr gedeckt sind. Zu diesen Traditionen gehört vor allem die Feier des Heiligabends „wie wir es früher gemacht haben“. Das ist durchaus nachvollziehbar. „Kinder sind erwachsene Menschen geworden, sie können nicht mehr alle unter demselben Weihnachtsbaum versammelt sein … Man merkt es aber, dass auch die erwachsenen Kinder noch an den Weihnachtsbaum bestimmte stillschweigende Anforderungen stellen. Neuerungen sind nicht erlaubt. Es braucht nicht alles wie im vorigen Jahr zu sein, aber es soll doch sein wie früher“ (Alfons Paquet).

Die Beobachtung Weber-Kellermanns deckt sich mit einer Gesetzmäßigkeit, die es in der Liturgie gibt und die Anfang des 20. Jahrhunderts Anton Baumstark dargestellt hat: An liturgisch „hochwertigen“ Tagen wie etwa Karfreitag oder Gründonnerstag, pflegen sich ganz alte liturgische Überlieferungen zu erhalten. Die Besonderheit der Liturgie dieser Tage beruht also nicht so sehr auf dem Inhalt der Festfeiern, vielmehr drücken sich darin ganz alte, sonst nicht mehr bewahrte liturgische Praktiken aus.

Dieses Phänomen gibt es auch außerhalb der Liturgie; auch im Bereich des Essens und Trinkens trifft dies zu, wie Richard Wolfram – ähnlich wie Baumstark – formuliert hat: „Bei brauchtümlich besonders wichtigen Mahlzeiten pflegen sich Gerichte aus dem ganz alten Speisezettel zu erhalten.“

Das Gefühl, geliebt zu werden

Die Bewahrung solch alter Feier-Schemata hängt aber auch damit zusammen, dass sich die meisten Menschen nach dem Weihnachten ihrer Kindheit sehnen. Sie standen im Mittelpunkt der Feier, waren wichtig, ja, das Fest drehte sich eigentlich um sie. Ihre Wünsche wurden zumindest gehört oder auf dem Wunschzettel entgegengenommen, und auf die Erfüllung durfte man sich freuen. „Dieses Gefühl, geliebt zu werden, verstanden und geborgen zu sein, sucht jeder Mensch im weiteren Leben immer wieder. Weihnachten kann daran erinnern, dass man dieses Gefühl tatsächlich erleben kann, wenn wenigstens ein Fest der Kindheit eine Ahnung davon geben kann.“ – „In jener Christnacht hat das Leben mich noch geliebt“, schreibt die Autorin Margit Kastiany im Rückblick auf verschiedene Weihnachtsabende ihres Lebens.

Dieses Gefühl aber deckt sich durchaus mit der christlichen Botschaft des Weihnachtsfestes: „Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es“ (2Joh 3,1). „Die Gesten des privaten Lebens entsprechen der übergeordneten religiösen Bedeutung. Wer diese Bedeutung nicht mehr ausdrücklich für wichtig hält, bekommt in den Ritualen dennoch unbewusst eine Ahnung davon“ (Dänzer-Vanotti).

Aus dem Buch:

Guido Fuchs, Heiligabend. Riten, Räume Requisiten, Regensburg 2002.

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